Schamanismus: Begriff und Geschichte
Klassischer Schamanismus
Die Herkunft des Wortes Schamane ist nicht gesichert. Wahrscheinlich leitet es sich von dem tungusischen “Šaman” - “der, der weiß” bzw. “der, der erhoben ist”. Die konservativste Definition des Schamanismus beschränkt das Phänomen auch dementsprechend regional auf Sibirien und nennt bestimmte Aspekte wie z.B. rituelle Ekstase, Hilfsgeister, Schamaneninitiation und Jenseitsreise. Diese Elemente finden sich auch in anderen Kulturen. In einer erweiterten Definition wird unter Schamanismus daher ein Set an Techniken und Vorstellungen verstanden, das weltweit existiert und entsprechend der jeweiligen Kultur und Tradition ausgeprägt ist. Fundamental ist die Trance, in die der Schamane verfällt, um seine Seele auf die Jenseitsreise zu schicken. Im Unterschied zu Besessenheitskulten behält der Schamane aber jederzeit die Kontrolle über seinen Körper und Geist.
Zentrale Themen für Schamanen sind Heilung, Prophetie oder auch Totengeleit. Schamanen zeichnen sich in den meisten Kulturen dadurch aus, dass sie durch eine Krankheit oder Lebenskrise berufen werden. Sie verfügen über bestimmte Kleidung und Ausstattung. Essentiell ist, dass sie von ihrer Umgebung als Schamanen anerkannt werden. Ausschlaggebend ist die Fähigkeit, Kontakt mit der Geisterwelt aufzunehmen und mit Verweis auf die Schamanenkrankheit gleichermaßen der Zwang, diese Fähigkeit auch einzusetzen.
Neo Schamanismus
Unabhängig von indigenen Völkern oder bestehenden Traditionen befassen sich aber auch viele Menschen im Westen mit Schamanismus. In diesem Kontext stellt er Methoden und Techniken bereit, außergewöhnliche Bewusstseinszustände zu erreichen und so eine seelische Transformation zu bewirken. Ihm liegt ein animistisches Weltbild zugrunde, d.h. die Beseeltheit der Natur. Daraus ergibt sich auch ein großes Verantwortungsbewusstsein der Natur gegenüber und daher setzen sich viele Schamanen für den Umweltschutz und eine nachhaltige Lebensweise ein.
Hinzu kommt die Vorstellung, dass jeder Mensch aus Körper, Geist und Seele besteht - dies ist auch Grundlage der christlichen Lehre. Die Seele wird im Schamanismus aber in drei Teile aufgeteilt: die Körperseele ist für die organischen Funktionen zuständig, die Vitalseele für psychische Prozesse und die “wirkliche” Seele gehört zu einer jenseitigen Seinswelt. Darauf basiert der therapeutische Ansatz, den viele Schamanen mit ihrer Tätigkeit verfolgen. Da wie auch im Neuheidentum allgemein keine Dogmen bestehen kann der Schamane seine Tätigkeit flexibel der entsprechenden Situation anpassen.
Heilung und Selbsterfahrung wird durch das Erleben außergewöhnlicher und außeralltäglicher Bewusstseinszustände herbeigeführt. Dies steht im Gegensatz zu der sibirischen Vorstellung, derzufolge es Aufgabe des Schamanen ist, dabei zu helfen, eben solche Ereignisse zu überwinden. Neo-Schamanismus verspricht neue Erfahrungen, die den Praktizierenden (oder ihren Kunden) helfen sollen, aus dem Alltag auszubrechen und neuen Sinn und eine tiefere Verbundenheit mit der Welt und anderen Menschen zu finden.
Ob es sich beim Neo-Schamanismus um eine eigene Religion handelt, hängt von der Religionsdefinition ab. Die Techniken an sich können in anderen religiösen Kontexten verwendet werden, sind aber vor allem aufgrund der Seelenvorstellung generell stark an eine spirituelle Grundlage gebunden. Es bleibt also jedem selbst überlassen, wie er “seinen” Schamanismus praktiziert.
Es gibt einen weiteren Aspekt des Neo-Schamanismus, der weder Ziel oder Inhalt Phänomens ist: der Neo-Schamanismus ist Teil des Marktes. Durch die Vielzahl an Angeboten auf dem Buchmarkt, in Internetauktionshäusern, aber auch an Kursen und Ausbildungen hat der Neo-Schamanismus die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gelenkt. Außerdem hat das Phänomen auch im Bereich der Musik in Form von CDs mit Trommelmusik oder Meditationsanleitungen Erfolg. Markt kann in diesem Kontext nicht nur im wirtschaftlichen Sinne verstanden werden, sondern auch als System vom Wahlmöglichkeiten zwischen Sinnsystemen.
Geschichte und Quellen des Neo Schamanismus
Über die Ursprünge des Neo-Schamanismus sind sich die Forscher uneinig. Wahrscheinlich ist, dass verschiedene Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Impulse für die Gründung der Szene geliefert haben. Der früheste Einfluss geht demnach auf die Hippie-Bewegung der 1960er Jahre zurück. In den 70ern folgte dann die grüne Bewegung und in den 80er Jahren kam das Experimentieren mit bewusstseinsverändernden Drogen hinzu. Zusammengefasst bilden die Gegenkultur der Hippies, Umweltschutz und außergewöhnliche Bewusstseinszustände dann die Hauptmerkmale des Neo-Schamanismus.
Einer der Auslöser des „Schamanismus-Boom“ war der amerikanische Anthropologe und Schriftsteller Carlos Castaneda mit seinen Werken über die Lehren des Don Juan. In seinen Büchern beschreibt er das Wissen, dass ihm angeblich der Yaqui-Indianer Don Juan vermittelt hat. Mit wissenschaftlichen Anspruch und einer jedermann verständlichen Aufbereitung des Themas konnte er ein breites Publikum erreichen. Allerdings wurde die Authentizität der Lehren wissenschaftlich angezweifelt. Dennoch dienen sie vielen Neo-Schamanen als Grundlage für ihre Vorstellungen.
Neben Castanedas Büchern sind auch andere ethnographische Werke Quellen für den Neo-Schamanismus. Manchmal werden Feldforschungsberichte zu einem “Fenster in die Vergangenheit” verklärt und indigene Völker (die “edlen Wilden”) repräsentieren eine Lebensweise, die natürlicher und besser ist als die der sogenannten zivilisierten Welt. Den meisten Neo-Schamanen ist aber durchaus klar, dass sich z.B. das Weltbild der südamerikanischen Yanomami nicht einfach in das bayerische Bad Tölz versetzen lässt. Stattdessen bieten Berichte über den Schamanismus indigener Kulturen, aber auch fiktionale Werke den neuen Schamanen des Westens Inspiration dafür, wie man schamanistische Techniken und Vorstellungen in die heutige Kultur integrieren kann.
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